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daniamarthaler

Voreilige Schlüsse II oder die Last des Vorurteils


Wann hatten Sie das letzte Mal ein Vorurteil?


Ein kleines Kind liegt im Laden auf dem Boden und brüllt (wollte bestimmt ein Schoggistängeli und Mama hat, nicht wie sonst immer, nein gesagt). Ein Mann läuft an der Bushaltestelle in Trainerhosen an Ihnen vorbei (stammt bestimmt aus Ex-Jugoslawien). Eine in ein elegantes Kostüm gekleidete, jüngere Frau läuft mit einem Jungen an der Hand an Ihnen vorbei (die verbringt bestimmt mehr Zeit im Büro als mit ihrem Sohn).


Das Kind im Laden könnte genauso gut wütend sein, weil die Mutter nicht wollte, dass es die Eier auf das Förderband legt, der Mann in den Trainerhosen hat vielleicht Grippe und muss im Dorfladen Tee einkaufen und die elegante Dame ist die Gotte des Knaben und verbringt, wie jeden Mittwoch, den Nachmittag mit ihrem Patenkind.


Meine Überzeugung: Vorurteile sind Bockmist!


Ich war neulich mit meinem Mann in einem Geschäft für Badezimmeraustattungen. Wir bauen gerade das ehemalige Haus seines Vaters um und benötigen noch eine Lösung für das Elternbadezimmer. Hinter dem Empfangstresen sass ein übergewichtiger Mann mit leichten Stoppeln im Gesicht. Er begrüsste uns freundlich und sagte, dass er uns bei unserem Kundenberater anmelden werde. Kurz darauf erschien dieser und führte uns durch die Ausstellung. Bald zeigte sich, dass der Berater auf unsere nicht ganz alltäglichen Fragen keine Antworten hatte. Er schlug vor, seinen Kollegen dazu zu holen, der arbeite schon ziemlich lange für dieses Unternehmen und hätte deshalb vermutlich die besseren Ideen.


Der Berater kam mit dem Mann, der uns begrüsst hatte, nennen wir ihn Herrn Winter, zurück. Ich war überrascht, hatte ich doch gedacht, dass es sich bei Herrn Winter um einen Empfangsmitarbeiter und nicht um einen Berater handelt. Ich beäugte ihn kritisch: schlurfender Gang, schlechtsitzende Jeans, im unteren Bereich seines beachtlichen Bauches lugte das weisse Unterhemd hervor. Und zack, schlug meine Vorurteilsmaschinerie zu: der Mann hat bestimmt keine Ahnung! Herr Winter belehrte mich eines Besseren und zwar schon in seinen ersten drei Sätzen. Er war charmant, äusserst kompetent, kreativ, zeigte mir Dinge auf, woran ich nicht einmal gedacht hatte, und war schnell im Kopf. Eigenschaften, die ich ihm einzig aufgrund seiner Erscheinung und des Ortes des ersten Aufeinandertreffens, kurzerhand abgesprochen habe.


Ich erzählte meinem Mann später davon. Und schämte mich. Wie konnte es mir passieren, dass ich jemanden aufgrund lächerlicher Äusserlichkeiten diskriminierte? Ich war wütend auf mich und fragte mich, weshalb Menschen überhaupt Vorurteile hegen.


Ein Blick ins Internet zeigte: das muss so sein! Das menschliche Gehirn arbeitet mit Schubladen, um die enorme Informationsflut überhaupt verarbeiten zu können.


Ein Beispiel zeigt, wie das funktioniert: ein Mann läuft auf dem Trottoir durch die Stadt und schaut auf sein Handy. Er hört die Strassenbahn. Sein Gehirn reagiert sofort, schiebt das Geräusch in die Schublade ‚Unwichtiges‘ und verhindert so, dass Hirnleistung für Unnötiges verwendet wird. Der Mann kann ohne Unterbrechung sein SMS weitertippen. Später möchte er die Strasse überqueren und schaut dazu auf, um sicher zu gehen, dass kein Fahrzeug angefahren kommt. Er läuft weiter und senkt seinen Blick wieder auf sein Handy. Kurz darauf hört er „HEY!“ Sein Hirn reagiert prompt und schiebt das Geräusch in die Schublade ‚Gefährliches‘. Der Mann schaut auf und kann gerade noch verhindern, mit dem Velofahrer zusammen zu stossen, den er offensichtlich vorhin übersehen hatte.


Das Wissen, dass die Natur das schon korrekt eingerichtet hat mit dem Gehirn, schmälert meine Scham über mein Verhalten aber keineswegs. Ich habe einem Menschen Unrecht getan und das widerspricht meinen Prinzipien ganz grundlegend.


Ich kann natürlich nicht verhindern, dass mein Hirn so funktioniert, wie es funktioniert. Aber ich werde beim nächsten Mal versuchen, das Vorurteil als solches zu entlarven und ein Urteil erst dann fällen, wenn ich genügend Fakten dazu habe.


Dieses von mir angestrebte Verhalten würde auch einigen Medizinern gut zu Gesicht stehen. Beispielsweise dem Neurologen, den ich wegen meinen neurologischen Ausfällen aufsuchte und der mir – mangels nachweisbarer Entzündungsherde in Hirn und Rückenmark - eine somatoforme Störung diagnostiziert hatte. 'Nicht nachweisbar' bedeutet übrigens in keiner Weise 'nicht vorhanden'. Vielmehr bedeutet es, dass die Technik noch nicht so weit ist, diese Entzündungsherde aufzeigen zu können.


Die somatoforme Störung nennt man im Volksmund schlicht Hypochondrie. Im ersten Moment bin ich empört und fassungslos. Wie kommt dieser Arzt dazu, mir vorzuwerfen, dass ich mir das alles einbilde? Im zweiten Moment entscheide ich mich, die Einschätzung des Arztes kritisch zu überprüfen, statt einfach abzulehnen. Schliesslich ist mein grösstes Ziel, alle meine Beschwerden loszuwerden und gesund zu sein. Ich spreche mit meinem Mann, mit Freunden, reflektiere mein Leben. Bin ich glücklich? Zufrieden? Was belastet mich psychisch? Ich frage meinen Psychiater, der mich seit Beginn der Erkrankung tatkräftig, vorurteilsfrei (!) und wohlwollend unterstützt. Wir diskutieren die Gründe, die für und gegen eine solche Diagnose sprechen könnten. Ja, ich hatte eine anstrengende Zeit vor der Erkrankung. Ja, ich habe Dinge erlebt in meinem Leben, die nicht einfach zu verdauen waren. Nein, ich bin nicht unglücklich. Nein, ich bin nicht unzufrieden. Und vor allem: Ich vermisse mein Leben! Mein aktives Teilhaben an der Familie, meine Arbeit, das Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben.


Die ‚Diagnose‘ somatoforme Störung macht in meinem Fall schlicht keinen Sinn. Ich kann nämlich keinen ‚Krankheitsgewinn‘ verbuchen.


Weshalb ich ‚Diagnose‘ in Anführungszeichen setze? Nun, da die somatoforme Störung eine psychische Erkrankung ist, kann die entsprechende Diagnose nur von einem Psychiater gestellt werden, kaum von einem Neurologen. Der handwerklich talentfreie Chemieprofessor sollte schliesslich auch nicht dem begnadeten Schreinermeister erklären, wie er eine Truhe aus dem 18. Jahrhundert zu restaurieren hat. Schuster, bleib bei deinen Leisten.


Sicher, die allermeisten Mediziner wollen helfen, deshalb haben sie ja diesen Beruf ergriffen. Sie sollten aber ihre Diagnosen fundiert stellen. Voreilige Schlüsse führen immer in eine Sackgasse und sind keine Hilfe. Im schlimmsten Fall führen sie dazu, dass schwerkranke Patienten diskriminiert werden.






Die ersten Tulpen im Jahr sind immer die schönsten!


(Ist ein Vorurteil...)

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