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  • daniamarthaler

Wort zum Sonntag

Lang ist es her, seit ich den letzten Blogeintrag verfasst habe. Es ist nicht so, dass ich nicht schreiben wollte. Eher war es so, dass ich nicht schreiben konnte. Ich habe etliche Anläufe genommen, ein paar Sätze geschrieben, durchgelesen und das Geschriebene entnervt gelöscht. Es ging einfach nicht. Nichts war gut, spannend, lesenswert genug. Alles irgendwie banal.


Es hat sich in den Wochen seit meinem letzten Beitrag nicht viel getan und doch drehte sich die Erde weiter. Corona kam; Schule zu Hause kam und ging; eine Verbesserung meiner gesundheitlichen Verfassung kam und ging und kam wieder. Jetzt gerade bin ich seit fast einer Woche auf Halbmast. Die paar Tage vor dem neuerlichen Niedergang meiner Leistungsfähigkeit waren aber der Hammer!


Mein Lebenskomplize und ich feierten vor ein paar Tagen unser zehnjähriges Hochzeitsjubiläum. Zehn Jahre! Diese Zeit verging so schnell! Was sich in diesen zehn Jahren alles ereignet hat; unglaublich! Es fühlt sich an, als wenn unser Hochzeitsfest erst gestern stattgefunden hätte. Die Erinnerungen an die Emotionen damals sind so lebendig, als wenn keine Zeit verstrichen wäre. Und doch sind wir beide andere als damals. Das Leben hat uns geprägt, im Guten wie auch im Schlechten.

Es ist ein riesiges Glück, dass wir diese Entwicklungsschritte gemeinsam hinbekommen haben, dass wir in dieselbe Richtung gelaufen sind. Möglichkeiten für eine divergierende Entwicklung hat es genug gegeben die letzten zehn Jahre. Die drei grössten waren Elternwerden, meine Krankheit und unser Hausbau. Die Gelegenheiten, sich dabei in die Haare zu kriegen, waren und sind äusserst zahlreich. Und doch haben wir es irgendwie geschafft, Kompromisse einzugehen, zugunsten des anderen zurückzustehen, wenn es gerade nicht so mega wichtig war, die eigene Meinung durchzusetzen, und stets auf Augenhöhe zu bleiben. Ich muss zugeben; ich bin stolz auf uns!


Zur Feier unseres Jubiläums sind wir mit unseren Kindern und dem Wohnmobil für drei Tage ins Tessin gefahren. Meinen Lieblingsmenschen und mich verbindet viel mit der Sonnenstube der Schweiz; unzählige Male haben wir die Kletterfelsen rund um Ponte Brolla unsicher gemacht, sind mit dem Velo über den Gotthard geradelt und mit dem Töff zum Moon and Stars Festival in Locarno gereist.

Zunächst war ich wenig begeistert von der Idee, unser Jubiläum im Tessin zu feiern. Ich hatte Bedenken wegen der langen Fahrt und Angst, dass sie mich zu viel Energie kosten würde. Wir suchten Alternativen, doch das Wetter spielte nicht mit. Einzig fürs Tessin war Sonnenschein prognostiziert, also musste es wohl so sein… Auch mit dem Campingplatz hatten wir Glück, es gab noch freie Plätze für die von uns gewünschten Tage.

In diesen drei Tagen habe ich mich beinahe gesund gefühlt, so aktiv konnten wir seit Beginn der Krankheit nicht mehr sein. Am ersten Tag die Fahrt ins Tessin, Rumklettern auf den grossen Felsbrocken der Maggia, nackt ins eisige Wasser tauchen, am Abend mit dem Velo zu einem Grotto gut einen Kilometer entfernt radeln und zu Abend essen. Nur schon etwas davon hätte mich vor sechs Monaten schlicht gekillt. Das ganze Progrämmli wurde begleitet von uns vier gut gelaunten und zum Scherzen aufgelegten Menschen, eine normale Familie, ein normales Familienleben!


Meine Angst war gross, dass ich am nächsten Tag ausfalle. War aber nicht so. Am Morgen fühlte ich mich wohl unerholt und brauchte lange, um in die Gänge zu kommen, aber dann ging’s. Und wie es ging! Wir sind mit dem Velo zum knapp zwei Kilometer entfernten Kletterfelsen gefahren, zehn oder fünfzehn Minuten zu den Routen hoch gewandert und dort das erste Mal mit unseren Jungs klettern gegangen. Es war unbeschreiblich! Es gibt keine Worte für das Glücksgefühl, das ich in diesen Tagen erlebt habe. Es ist pures Glück, das (Familien-)leben so gestalten zu können, wie man das gerne möchte! Natürlich lag nicht alles drin. Nach zwei ziemlich kurzen Routen klettern im untersten Schwierigkeitsgrad war für mich Schluss und das Sichern der Kinder musste ich meinem Mann überlassen. Auch das heissgeliebte Feierabendbier und der Merlot zum feinen Znacht musste ich auslassen. Dafür konnte ich in der Maggia baden und am nächsten Tag auf dem Gotthard mit meinem Lieblingsmenschen eine 4a-Route klettern. Nur wir beide, die Kids sassen derweil im Heidelbeerenfeld und schlugen sich die Mägen voll.


Immer mal wieder denke ich über den Begriff ‘Krankheit’ nach. Kürzlich war ich auf dem Steueramt meiner Gemeinde, ich benötigte einen Steuerauszug für die Berechnung der AHV-Beiträge (nebenbei: wer hätte gewusst, dass auf Krankentaggelder keine AHV-Beiträge abgerechnet werden? Ich nicht, wir haben jetzt eine zweijährige Beitragslücke…!). Jedenfalls musste die Dame wissen, was ich genau benötige. Ich versuchte es zu erklären und sagte: «Ich bin seit drei Jahren krank und deshalb arbeitsunfähig, darum brauche ich…» Sichtlich irritiert schaute sie mich an. Ihre Gedanken liefen wie eine Leuchtschrift über ihre Stirn: «Was? Sie sind krank? Was haben Sie denn? Sie sehen aber gar nicht so aus!» Gesagt oder gefragt hat sie allerdings nichts. Schade, ich hätte es ihr gern erklärt.


Morgen muss ich zur polydisziplinären Begutachtung der IV. Ich werde neurologisch, innermedizinisch, psychiatrisch und neuropsychologisch auf meine Arbeitsfähigkeit hin untersucht. Beim Gedanken an das, was mir bevorsteht, bekomme ich Herzklopfen und Schwitzehändchen. Ich lebe nun seit drei Jahren mit einer heimtückischen Krankheit, die wirklich schwierig in Worte zu fassen ist. Myalgische Enzephalomyelitis einem Nichtbetroffenen begreifbar zu machen ist eine grosse Aufgabe. Ironischerweise ist diese Aufgabe besonders bei Medizinern fast unlösbar.

Vor ein paar Wochen hat mich ein Mann angeschrieben, der durch einen schlimmen Tumor ein ähnliches Krankheitsbild entwickelt hat, wie ich es habe. Dieser Mann ist selbst Arzt, Rheumatologe gar, der öfters mit ungewöhnlichen Krankheitsbildern wie beispielsweise Fibromyalgie und eben auch ME beruflich konfrontiert wurde. Er schrieb mir, dass er, obwohl er es wirklich versucht habe, sich in die Patienten nicht genügend einfühlen konnte. Es kam ihm als gesunder Mensch total abstrakt vor, dass man unter Erschöpfung und Schmerzen leiden konnte, obwohl die messbaren Parameter im Normbereich lagen. Seine eigene Erkrankung habe ihm nun die Augen geöffnet. Ich freute mich sehr über seine Zeilen und den Austausch mit ihm.

Bis anhin ärgerte ich mich jeweils bloss über die scheinbare Ungläubigkeit, Arroganz, Empathielosigkeit und das Unverständnis gewisser Ärzte. Ich vermute jetzt aber, dass die Mediziner leider dermassen an ihre eigenen, nicht perfekten Untersuchungsmethoden glauben, dass es ihnen schwerfällt oder gar unmöglich ist, den Menschen hinter der Krankheit zu sehen. Ich bin nicht Laborwerte und MRI-Bilder. Ich bin Dania, mit einer Biographie, mit Erfolgen und Misserfolgen; mit guten und schlechten Charakterzügen; mit Vorlieben und Abneigungen; mit gesunden und kranken Anteilen.


Morgen also werden vier Mediziner darüber befinden, wie gross meine gesunden und kranken Anteile sind.


Gerne würde ich morgen früh dort anrufen und sagen: «Wissen Sie was, ich komme nicht. Ich gehe wieder arbeiten, ich brauche Sie nicht!» Aber das stimmt leider nicht. Ich brauche die IV. Ich bin nicht gesund. Das ist Fakt.


Nach unseren drei Tagen Tessin war wieder Liegen angesagt, jeder Schritt eine Mühsal, jedes Gespräch harte Arbeit, Schmerzen und Migräne.


Ich lebe mit ME. Lustig ist das nicht, aber es ist mein Leben. Ein anderes kriege ich nicht.




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