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daniamarthaler

Atombombe

Heute las ich im Blog von Jennifer Brea, der Macherin des ME-Dokumentarfilms ‚Unrest‘ und selbst ME-Betroffene, dass sich ihre Krankheit auf dem Rückzug befindet. Nach mehreren Operationen der Wirbelsäule zur Korrektur ihres Spinalkanals, werden ihre Symptome immer weniger. Sie kann wieder laufen, stehen, in Gesellschaft sein, Cafés besuchen… Was man so macht als (fast) gesunder Mensch. Ich freue mich für sie, von ganzem Herzen!


Jennifers Leidensweg war lang. Sie verbrachte die letzten acht Jahre fast ausschliesslich in ihrem Bett, lief 250-300 Schritte am Tag, nämlich zum Badezimmer und zurück ins Schlafzimmer. Heute erfüllt sie keine der gängigen Kriteriensets zur Diagnose von ME mehr, vor ihren Operationen trafen alle zu.


Ich selbst erfülle die verfügbaren Kriteriensets allesamt. Mühelos. Wie viele andere, teils schwerstkranke Betroffene auch. Aber wir sind keine homogene Masse. ME hat, soweit ich das beurteilen kann, viele Ursachen und noch viel mehr Gesichter. Jennifers ME war durch eine Verengung ihres Spinalkanals begründet. Bei anderen ist allenfalls ein Virus die Ursache, bei wieder anderen möglicherweise ein Bakterium. Beim einen ist die Geräuschempfindlichkeit stark ausgeprägt, ein anderer hat dieses Symptom nur ansatzweise. Bei manchen führten zu Beginn der Krankheit hauptsächlich kognitive Anstrengungen zum Crash, nach einigen Jahren sind es die körperlichen Überlastungen. Diese Krankheit ist ein Albtraum, sowohl für die Betroffenen, als auch für die Angehörigen und ebenso für die behandelnden Ärzte. Packt man auf den sowieso schon grossen Haufen Unwägbarkeiten noch die Psyche, so wird ME zum unlösbaren Problem. Ich wage zu behaupten, dass ME-Betroffene, trotz ihrer schweren Erkrankung, nicht häufiger an irgendwelchen psychischen Krankheiten leiden als körperlich gesunde Menschen. Tun sie es, so ist es nicht die Ursache ihrer ME-Erkrankung, sondern allenfalls die Folge davon oder schlicht Pech, zwei Krankheiten sein eigen nennen zu müssen.


ME hat mich, besonders zu Beginn, in eine tiefe Krise gestürzt. Auch, weil die Ärzte mir nicht glaubten. Sie haben mir geglaubt, dass ich wohl krank bin. Aber keiner nahm mich ernst, als ich darauf beharrte, dass ich körperlich nicht in Ordnung wäre. Mein Leiden wurde psychiatrisiert und die Therapie der Wahl waren Psychopharmaka, Gesprächstherapie, Ergotherapie und, weil ich ein scheinbar besonders hoffnungsloser Fall war, Elektrokonvulsionstherapie. Genutzt hat das alles, wen wundert’s, nichts. Besonders die Elektrokonvulsionstherapie mit ihren insgesamt dreizehn Vollnarkosen innert sieben Wochen hat mich viel Kraft gekostet.


Mit der enormen Unterstützung meines Psychiaters, der mich nach meinem Austritt aus der psychiatrischen Klinik und bis heute behandelt hat, fand ich vergleichsweise rasch zur korrekten Diagnose. Plötzlich machte alles Sinn. Es war eine enorme Erleichterung zu erfahren, dass ich mir diesen ganzen Wust von Symptomen keineswegs einbilde, dass es weltweit viele Menschen gibt, die genau denselben Mist erleben. Ich verspürte eine grosse Genugtuung, dass meine anfängliche Einschätzung meines Zustandes entgegen allen Expertenmeinungen korrekt war.


Diese Erfahrung, sowie alles, was ich in den letzten zwanzig Monaten erlebt habe, hat meine Weltanschauung, mein Selbstbild und die Weise, wie ich mit Menschen umgehe, tiefgreifend verändert. Heute rede ich nur dann, wenn ich etwas zu sagen habe. Ich habe erkannt, dass ein Mensch aus vielen verschiedenen Facetten besteht. Ich priorisiere die anstehenden Aufgaben nicht mehr nur nach Dringlichkeit, sondern genauso stark nach dem Lustfaktor. Wirklich, also wirklich wirklich, unaufschiebbare Angelegenheiten gibt es nämlich fast keine. Die allermeisten Dinge können durchaus auch fünf Minuten, zwei Stunden oder gar zehn Tage später erledigt werden. Dann nämlich, wenn ich dazu Lust habe und mir die Erledigung Freude bereitet oder zumindest keinen Stress. Ich glaube, ich bin netter und vor allem nachsichtiger geworden mit den Menschen in meinem Umfeld und insbesondere mit mir selbst. Früher war ich mir selbst niemals gut genug. Ich bin unerreichbaren Idealen hinterhergehetzt und ständig latent enttäuscht von mir, weil ich die viel zu hoch gesteckten Ziele verfehlt habe. Dies war der Motor meines Schaffens und all meiner Erfolge. Heute liege ich auf dem Sofa, tippe diese Zeilen und bin rundum zufrieden mit mir selbst. Irgendwie paradox. Die Psychiatrisierung meiner Erkrankung hat mir genau das gebracht: Ich mag mich selbst. Somit war die ursprünglich falsche Behandlung durch die Ärzte doch irgendwie in Ordnung. Nicht richtig, soweit würde ich nicht gehen, aber in Ordnung.


Also alles gut? Dania‘s Welt in Ordnung? Mitnichten.


Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um meine ‚alte‘ Welt, mein früheres Leben trauere. Neulich war ich im Keller, hab nach was gesucht. Gefunden habe ich unser Kletterzeug. Seil, Expresssicherungen, Klettergurt, Schuhe. Ich konnte nur noch weinen. Ich werde vielleicht niemals wieder mit meinem wunderbaren Mann klettern können, vielleicht niemals unseren Jungs zeigen können, wie man das macht. Ebenso werde ich vielleicht niemals wieder das erhabene Gefühl erleben dürfen, das mich jeweils überwältigt hat, wenn ich eine für mich schwierige Kletterpassage geschafft habe.


ME ist wie eine Atombombe. Sie radiert alles aus, was war. Auf dem Brachland kämpfen sich mit der Zeit ein paar kümmerliche Grashalme empor, irgendwann vielleicht auch wieder Büsche, Bäume, Blumen. Wie lange das dauert, weiss niemand. Ob es überhaupt geschieht, ebenso wenig. Ich kann mich in diesem Brachland, in meinem neuen Leben einrichten. Ich bin anpassungsfähig. Die Trauer aber wird bleiben, bis wieder alles blüht.




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