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daniamarthaler

Auf dem Berg

Aktualisiert: 28. Okt. 2019


Die myalgische Enzephalomyelitis ist ein Monster. Ein fieses, niederträchtiges, gemeines Monster. Nicht so ein kleines, fluffiges Mönsterchen, das leise «buuh...» macht, sondern ein GROSSES, HAARIGES RIESENMONSTER, das laut «Jetzt hab’ ich dich und lass dich nicht wieder los!» schreit.


Als Kind hatte ich wohl nicht allzu grosse Angst vor Monstern. Sicherlich träumte ich ab und zu schlecht, aber da war keine grundliegende Angst davor, gefressen zu werden. Hätte ich die mal besser gehabt, dann hätte mich das ME-Monster vielleicht nicht erwischt.

Ja, ich weiss selbst, dass dies natürlich grosser Quatsch ist.


An diesem Wochenende bin ich mit meiner Jugendfreundin in unseren alljährlichen Kurzferien. Dieses Mal dürfen wir das zwanzigjährige Bestehen unserer Freundschaft feiern. Wir schwelgen in vielen Erinnerungen - «weisst du noch, wie wir…» und «ach ja, und dann damals, als…». In zwanzig Jahren sammelt sich ganz schön was an! Wir haben unglaublich viel zusammen unternommen; Fahrradtouren, Bergtouren, Klettersteige, Wanderungen, Hüttenübernachtungen. In den diesjährigen Ferien geht das alles nicht, das ME-Monster reist ja auch mit. Wir entscheiden uns also für einen Aufenthalt im Wellnesshotel. Meine Sehnsucht nach den Bergen ist aber – besonders im Herbst – ungebrochen gross. Wir reisen nach Schruns im Montafon. Die Wetterfee meint es gut mit uns und unserem Jubiläum und schenkt uns traumhaftes Berg-Herbst-Wetter.


Meine Sorgen vor diesem Wochenende waren gross und zahlreich: Schaffe ich die Anreise? Reicht meine Energie für die notwendigen Wege im Hotel (vom Zimmer zum Speisesaal und zurück) aus? Ist es im Speisesaal leise genug, damit wir uns unterhalten können? Bin ich kognitiv fit genug, mich mit meiner Freundin zu unterhalten? Bin ich körperlich fit genug, sie in den Wellnessbereich zu begleiten? Kann ich vielleicht sogar etwas vom grosszügigen Wellnessangebot für mich nutzen? Was, wenn die postexertionelle neuroimmune Erschöpfung zuschlägt? Was, wenn ich einen schlimmen Crash habe? Was, wenn ich an einem unmöglichen Ort zusammenklappe und meine Freundin mich aufsammeln muss? Was muss ich ihr vorgängig alles mitteilen, damit sie im Notfall richtig reagieren kann?


Neigte ich zu Pessimismus, so wäre ich bestimmt nicht gefahren. In der Mathematik ist eine Gleichung mit so vielen Unbekannten schlicht unlösbar. Im echten Leben müssen wir alle jeden Tag mehrfach Entscheidungen treffen, ohne alle Fakten zu kennen. Manchmal fühle ich mich dabei wie ein Pilot im Blindflug. Wenn ich unsicher bin, lasse ich den Bauch entscheiden. Dafür muss ich mich darauf verlassen können, dass die vielen Sensoren an und in meinem Körper korrekt eingestellt sind, denn nur dann können sie meine Intuition richtig lenken. Nun ist es aber so, dass etliche dieser Sensoren durch meine Krankheit nicht richtig justiert sind. Ich kann mich nie darauf verlassen, dass ich so viel leisten kann, wie mir meine Sensoren gerade mitteilen. Manchmal klappt’s, manchmal klappt es nicht. Manchmal crashe ich sofort, wenn ich mich überanstrenge, manchmal erst vierundzwanzig Stunden danach. Manchmal habe ich überhaupt nicht das Gefühl, dass ich mich überanstrengt habe und am nächsten Tag bin ich völlig erledigt. Auch zwei Jahre nach Beginn meiner Krankheit habe ich noch kein Rezept gefunden, wie ich leben kann, ohne zu crashen. Und ich meine ganz eindeutig LEBEN und nicht VEGETIEREN. Natürlich könnte ich mich so bewegen (oder eben genau nicht bewegen…!), dass ich nicht zusammenklappe. Dazu müsste ich aber im Bett bleiben. Immerzu. Ich bin sehr dankbar, dass ich eine Wahl habe! Mir geht es nämlich so gut, dass ich wählen kann, ob ich aufstehen möchte oder nicht. Schwerbetroffene ME-ler haben diese Wahl nicht mehr. Sie crashen bei kleinsten Anstrengungen; Zähneputzen beispielsweise.


Bis vor kurzem machte ich mir Vorwürfe, wenn meine Einschätzung des Leistungsvermögens nicht gepasst hat und ich darauf warten musste, dass der Crash vorüber geht. Hätte ich doch das nicht gemacht, wäre ich doch früher nach Hause gegangen, hätte ich mich doch nicht so aufgeregt, was auch immer. Das tue ich jetzt nicht mehr. Zu viele Unbekannte in der Gleichung. Ich war im Blindflug, die Sensoren haben versagt. Technischer Defekt, nicht menschliches Versagen. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe gelebt. Mehr konnte ich nicht tun.


Zurück zum Wochenende mit meiner Freundin.


Am zweiten Tag spazieren wir ganz langsam durchs Dorf. Ich habe Angst. Nach dem letzten Spaziergang, den ich unternommen habe, lag ich im Bett. Wir werden auf unserem Spaziergang überholt. Von zwei Frauen, die locker doppelt so alt sind wie wir. Von einer Schildkröte. Ich meine, auch eine Schnecke an uns vorbeirasen zu sehen. Aber das geht so schnell, ich bin mir echt nicht sicher… Jedenfalls lasse ich irgendwann meine Angst am Wegrand zurück, wird schon schiefgehen. Der Respekt vor der Lauferei bleibt aber. Ich bin mir bei jedem Schritt bewusst, dass diese Tätigkeit furchtbar schnell im Desaster enden kann. Und wir tun noch etwas Verrücktes: wir fahren mit einer Gondel aufs Hochjoch, 1862 Meter über Meer. Seit ich krank geworden bin, toleriere ich Höhenlagen schlecht. Mir wird schwindlig und jede Bewegung ist anstrengender als in tieferen Regionen. Auf dem Weg nach oben muss ich mich setzen. Es dreht sich alles. Oben angekommen setze ich meine Füsse vorsichtig auf, mache kleine Schritte und staune darüber, wie viel anstrengender jeder einzelne Schritt und jede Bewegung mit meinen Armen ist. Vom Panorama bekomme ich nichts mit, zu sehr bin ich damit beschäftigt, nicht zu stolpern und einen Platz zum Liegen zu finden. Nach einer Erholungsphase kann ich das traumhafte Panorama doch noch bewundern, ich bin völlig überwältigt. Es ist einfach nur wunderschön! Ich studiere die umliegenden Berggipfel, suche Gipfelkreuze und mögliche lohnenswerte Klettereien. Die Traurigkeit trifft mich komplett unvorbereitet und sie ist heftig. Die Erkenntnis, dass ich vielleicht niemals wieder einen Gipfel erklimmen werde, eine Klettertour in Angriff nehmen und nach dem geglückten Aufstieg das Gipfelkreuz berühren kann, dass meine zwei Beine mich nicht da hochtragen können, jetzt nicht und vielleicht für den Rest meines Lebens nicht, bringt mich zum Heulen. So sitze ich auf einem Stein und weine. Ich weine heimlich, denn ich weiss, dass ich, müsste ich meiner Freundin erklären, weshalb ich weine, nicht wieder damit aufhören kann. In beinahe all unseren Kurzferien bisher waren wir sportlich aktiv und unternahmen Grossartiges. Vielleicht würden wir das niemals wieder tun können. Die Trauer darüber ist für eine kurze Zeit allumfassend. Ich lasse sie zu und weine. Und jetzt, wie ich diesen Text schreibe, weine ich auch.


Das Monster, das mich vor zwei Jahren angefallen hat, hat einen grossen Teil meiner Person getötet. Um diesen Teil trauere ich, immer und immer wieder. Mit Depressivität hat das nichts zu tun, sondern mit legitimer Trauer beim Verlust eines nächststehenden Menschen.




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