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  • daniamarthaler

Das kleine bisschen Glück……

…wenn ich am Morgen, also mindestens vor elf Uhr, aufstehen kann und merke, dass es mir ein Fitzelchen besser geht, als am Tag davor; dieses kleine bisschen Glück durchflutet mich ebenso stark wie das zu Studienzeiten eine bestandene Prüfung tat. Es ist unfassbar, wie sehr sich das Niveau des Glücks verschoben hat! Als ich gesund war, verlangte das Glücksgefühl von mir doch einiges ab, bis es sich gnädiger Weise einstellte. Heute muss ich nur aufstehen und merken, dass es mir geringfügig besser geht als am Tag zuvor.


Der Mechanismus der Gewöhnung, also Alltäglichkeiten als selbstverständlich und somit als nicht-Glücksgefühl-würdig zu erachten, erinnert etwas an Drogen- und Alkoholmissbrauch. Süchtige gewöhnen sich bald an eine neue, höhere Dosis und benötigen immer mehr Stoff, um denselben Effekt zu erzielen. Süchtig nach Glücksgefühlen? Ist das der Antrieb, immer mehr und noch mehr leisten zu wollen?


Ich weiss es nicht. Leistung erscheint mir aber einer der grossen Glücklichmacher zu sein. Wenn ich etwas (er-)schaffe, so verspüre ich jedenfalls Glücksgefühle. Der Weg zum Endprodukt, auch wenn ich etwas sehr gerne mache, vermag es meist nicht, diese Gefühle auszulösen. Erst wenn ich das fertige Werk vor Augen habe, stellt es sich ein.


Gestern durfte ich eine Leidensgenossin besuchen. Sie ist vor neun Jahren an ME erkrankt und seit fünf Jahren bettlägerig. Fünf Jahre!!! Das sind fast 2000 Tage… Bis vor kurzem waren selbst ein Gang ins Badezimmer zu viel und nicht machbar. Auf meine Frage, was sie denn den ganzen Tag tue, war ihre Antwort: „Ich muss mich viel ausruhen, dann tue ich gar nichts.“ Natürlich habe ich schon von einigen Schwerkranken gelesen und mit welchen Dämonen und Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben. Wirklich eine Vorstellung davon, wie ein solches Leben sich anfühlt, gaben mir die Berichte aber nicht. Weil es schlicht unvorstellbar ist. Manchmal könne sie ein Hörbuch geniessen, oder mal am Computer das eine oder andere machen. Sie wirkte völlig entspannt, während sie das sagte. Ich konnte keine Verbitterung aus ihren Worten heraushören, sie erschien mir in sich ruhend, als ob sie ihren Frieden mit der wirklich hässlichen Situation geschlossen hätte. Ich bewunderte sie in diesem Moment aus tiefstem Herzen!


Sie schien keineswegs resigniert, sie hatte sich nicht mit ihrem Zustand abgefunden oder aufgehört zu träumen. Sie erzählte mir, dass sie sich nach Ferien sehne. Einfach wieder einmal für ein paar Tage die eigenen vier Wände verlassen, Berge sehen. Während sie sprach, leuchteten ihre Augen in einer unglaublichen Intensität. Ich konnte sehen, dass sie nicht aufgegeben hat, dass sie immer noch, selbst nach so vielen Jahren Bettlägerigkeit, an eine Verbesserung glaubt.


Wir erleben unsere Welt sehr ähnlich, denke ich. Ich habe allerdings viele Privilegien, die sie nicht (mehr) hat. Als sie krank wurde, war das Bewusstsein für ME weder bei Ärzten noch in der Bevölkerung auch nur ansatzweise vorhanden. Es gab nahezu keine Informationen zur Krankheit und sämtliche Ärzte, die sie aufsuchte, rieten ihr zu Sport. Sie müsse sich bloss etwas mehr bewegen und ausgewogen essen, dann werde sie schon wieder gesund. Ich habe sie als ehrgeizig kennengelernt und kann mir ziemlich gut vorstellen, was sie mit dieser Information anfing. Sie ging in die Berge, reiste in ferne Länder, trieb sich an. Aber es wurde nicht besser, es wurde immer schlimmer. Heute weiss man, dass der Körper eines ME-Kranken Anstrengungen nicht verarbeiten kann, die Erholung dauert abnormal lange und häufig erreichen die Patienten nach einer schlimmen Erschöpfung ihre vorherige Leistungsfähigkeit nicht mehr. Es lässt sich leicht erraten, was geschieht, wenn sich ein ME-Patient ständig überanstrengt.


Ihre Eltern begleiteten sie zu Beginn zu den Ärzten und sie glaubten ihr, dass ihr Zustand körperlich und nicht psychisch bedingt ist. Doch die gefühlt hundert Ärzte beschieden ihr und ihren Eltern allesamt eine psychische Ursache ihres Leidens, weil sie keine bessere Erklärung fanden. Zudem beschuldigten die Ärzte die Eltern, mit ihrer Unterstützung die Tochter in dem kranken Zustand festzuhalten. Meines Wissens gibt es für das den Eltern unterstellte Verhalten sogar einen Fachbegriff: Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Daraufhin zogen sich die Eltern zurück und versagten ihr die dringend benötigte Hilfe. Dies taten sie im festen Glauben, ihrer Tochter damit etwas Gutes zu tun.


Ich musste mich während ihrer Schilderung stark zusammen reissen, um nicht in Tränen auszubrechen. Es tat mir so unendlich leid für sie. Natürlich veränderte sich ihr Zustand nicht in die gewünschte Richtung, im Gegenteil. Emotionale Anstrengungen sind für die meisten ME-ler nämlich genauso gefährlich wie körperliche Anstrengungen. Zu ihrem grossen Glück liess sich ihr Lebenspartner von solchen Aussagen nicht beirren und stand ihr bei, nicht nur mit Rat und Tat, sondern auch finanziell. Die Invalidenversicherung (IV) lehnte ihren Anspruch auf Unterstützung rundweg ab. Die IV bot sie für die ärztliche Begutachtung nach St. Gallen auf. Die Reise wäre für sie zu dem Zeitpunkt aber schon nicht mehr möglich gewesen. Ihrem legitimen Wunsch nach Verlegung der Begutachtung nach Zürich wurde nicht stattgegeben und eine IV-Rente abgelehnt. Die Begründung war, sie hätte sich nicht kooperativ gezeigt.


Ich fragte mich gestern auf dem Weg nach Hause, woraus sie ihre Glücksgefühle zieht, ihren unbändigen Willen trotz aller Widrigkeiten nicht aufzugeben. Weiterzumachen, weiter, immer weiter. Ich glaube, dass sie das riesige Glück hat, einen ihr eigenen, unglaublich starken Lebenswillen zu besitzen. It’s not over, until it’s over. Oder anders ausgedrückt: Am Ende wird alles gut. Ist es nicht gut, so ist es noch nicht das Ende.


Ich wünsche es dir, liebe Leidensgenossin, dass endlich die Wende kommt, dass du dein Bett verlassen kannst und die Berge siehst und bewandern kannst! Bis es soweit ist, wünsche ich dir viele Glücksgefühle, die dich dein Schicksal weiterhin ertragen lassen.





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