Etwas nicht zu können, das hat mich immer schon auf die Palme gebracht. Als kleines Kind wollte ich immer alles alleine machen, lernen, tun. Ich hasse es, auf andere Menschen angewiesen zu sein.
Mit 'tun' ist grade nicht so viel los. Jetzt sitze ich, oder liege, die meiste Zeit des Tages faul rum. Bewege ich mich, so bewegt sich stets auch der Gedanke "Tu ich jetzt zu viel und büsse ich es mit mehrtägiger Bettruhe?". Und mit diesem Gedanken ist immer die Angst verknüpft: "Ich ertrage einen solchen Crash nicht nochmal, ich kann nicht!"
Der letzte Crash ist schon eine Weile her, die Angst davor aber omnipräsent. Jede Bewegung, jede kognitive oder emotionale Anstrengung, ruft ein panikartiges Gefühl auf den Plan, lähmend und gute-Laune-vernichtend. Es ist zum Verrücktwerden!
Letztens musste ich zu einem mir unbekannten Arzt. Ich hatte einen heftigen Migräneanfall und brauchte eine Infusion. Sprechen ging fast nicht mehr und laufen auch nicht. Der Arzt war etwas geschockt von meinem Zustand. Ich konnte ihm, als die Medikamente wirkten, erklären, dass die Migräne sämtliche Symptome der ME (myalgischen Enzephalomyelitis) noch verschlimmerten, was meinen Zustand für ihn verständlich machte. Seine Frage, ob ich denn mit meiner Krankheit angemessen betreut werde, beantwortete ich mit einem Schulterzucken. Was ist denn wohl angemessen? Bei einer Krankheit, für die es keine Therapie gibt? Na, meinte er, ob mir denn psychologisch geholfen werde. Es sei sehr hilfreich bei dieser Krankheit. Menschen, die so lange krank seien, würden sich verändern, meinte er. Den Nachsatz konnte ich schon nicht mehr aufnehmen. Wie auf Knopfdruck war die Wut darüber, dass mir scheinbar schon wieder ein Arzt sagte, ich sei selbst schuld an meinem Zustand ('ist ja alles im Kopf!','somatoforme Störung'), durchfuhr mich wie eine Feuerwalze. Ich hätte ihn am liebsten angeschrien. Aber ich bin ja zivilisiert. Hab ich also nicht gemacht, sondern gesagt, es sei eine G-codierte Krankheit. NEUROLOGISCH! Dammi nomal! (Hab ich auch nicht gesagt, sondern bloss gedacht.) Und verliess die Praxis.
Die Wut flaute ab, der Nachsatz drang dann doch noch in mein Hirn. 'Menschen, die so lange krank sind, verändern sich.'
Ich dachte lange darüber nach. Habe ich mich verändert? Und wenn ja, wie?
Auf den ersten Blick sind meine Veränderungen vernichtend. Aus der Macherin, die zuerst tut und dann denkt, ist das verschupfte Mäuschen geworden, das so viel denkt, dass es nicht mehr tun kann. Ich bin ängstlich geworden, habe mich zurückgezogen von der Welt und traue mir nichts mehr zu. Von der 'Superwomen', die Familie, Gymnasiallehrerausbildung und ein 100% Pensum an einer Mittelschule unter einen Hut gebracht hat (war ein ziemlicher Krampf, gebe ich zu...), ist nichts mehr da. Ich fühle mich bei den kleinsten Kleinigkeiten überfordert und würde mich am liebsten in eine Ecke verkriechen und weinen. Das tue ich meistens nicht, manchmal aber schon. Auch überkommt mich des öfteren eine tiefe Resignation ('ich kann tun und lassen was ich will, mir geht's beschissen und besser wird's auch nicht') oder alternativ eine allumfassende Verzweiflung ('was-soll-ich-bloss-tun-was-soll-ich-bloss-tun').
Seit ein paar Tagen kommt aber auch eine explosive Wut auf die Situation hinzu. Es macht mich wütend, dass ich nicht einfach das Haus verlassen, einen ausgedehnten Spaziergang in der frühlingshaften Sonne unternehmen, meine Skier packen und eine Tour machen, mich mit einer Freundin ohne nachzudenken im Restaurant zum Abendessen treffen, meine Kinder mit dem Fahrrad suchen kann, wenn sie ihren Radius zu weit ausgedehnt haben. Und und und...
Es macht mich so WÜTEND, nicht zu können! Und diese Wut bringt endlich meinen Trotz hervor: jetzt erst recht! Es kann doch nicht sein, dass ich so Vieles nicht mehr kann!
ME hat mich unnatürlich vernünftig gemacht. Unnatürlich für mich, wohlverstanden. Denn wenn ich eines nie war, dann vernünftig. Oder ist es etwa vernünftig, sich für ein Chemiestudium zu entscheiden, weil es das einzige Fach ist, von dem man gar nichts weiss, geschweige denn versteht? Ist es vernünftig, mit vierzehn Jahren den Eltern so lange auf die Nerven zu gehen, bis man ohne elterliche Begleitung einen ehemaligen Schulfreund in Spanien besuchen darf? Auch kann es nicht als vernünftig bezeichnet werden, mitten im Masterstudium schwanger zu werden. Nein, ich bin nicht vernünftig und ich will es auch gar nicht sein. Vernünftig sein ist langweilig und doof.
Mein Lieblingsmensch pflegt zu sagen: 'Vernunft ist gegen die Gefühle gearbeitet'. Da hat er soooo recht!
Ich will LEBEN! Nicht bloss SEIN. Was ich dafür tun muss? Weniger denken und mehr tun. Nicht so unglaublich vernünftig sein.
Ich mag meine Wut und meinen Trotz. Sie helfen mir dabei.
PS: Mein Eindruck von oben erwähntem Arzt hat beim zweiten Termin (die Infusion hat eine Venenentzündung ausgelöst, die er sich anschauen musste) massiv relativiert. Er hat mit seinen Worten gar nicht ausdrücken wollen, dass sich mit Psychotherapie etwas gegen ME ausrichten liesse, sondern nur, dass psychologisch-psychiatrische Unterstützung hilft, mit dem Mist, den die Krankheit so mit sich bringt, umzugehen. Da sind wir dann derselben Meinung.
Sinnbild der Vernunft: alkoholfreies Bier. Schon wenige Tropfen Alkohol können einen Crash auslösen. Können, müssen nicht. Vernünftigerweise trinke ich deshalb nur noch alkoholfreie Getränke. Spass macht das nicht und katapultiert mich sozial ins Aus. Wenn alle mit Wein anstossen, sitze ich da und könnte in mein Wasserglas ko...
Auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben, habe ich neulich drum ein Viertelglas Wein mit meinem Liebsten getrunken. Ich genoss noch nie zuvor so wenig Wein so sehr!
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