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  • daniamarthaler

Licht am Ende des Tunnels…


Ich würde mich als impulsiv, begeisterungsfähig und spontan bezeichnen. Charaktereigenschaften, die ich an mir sehr schätze, die mir aber im Umgang mit meiner Krankheit ständig ein Bein stellen.


Morgens, wenn ich aufstehe, kann ich meistens schon ziemlich gut erahnen, wie der Tag laufen wird. An guten Tagen spüre ich die Energie, die meinen Körper durchströmt. Klingt nach Klischee, ist aber so. Meine Arme und Beine fühlen sich dann nicht nach nutzlosen Betonklötzen an, sondern nach Verbündeten. An diesen Tagen freue ich mich wie ein Kind und verhalte mich oft auch so: ich lebe im Moment und mag mich nicht ständig mit den Konsequenzen meines Tuns auseinandersetzen. Die Konsequenzen sehen dann meist so aus, dass ich für einen guten Tag drei bis sieben Tage büsse. Dann kommt der nächste gute Tag, der mich wiederum ein paar Tage meines Lebens kosten wird. ME-Patienten und die paar wenigen Experten, die es gibt, nennen dieses Muster den ‚Push-Crash-Kreislauf‘. Damit ist gemeint, dass der Patient an den guten Tagen die persönlichen Grenzen entweder nicht als solche erkennt oder schlicht ignoriert. Mit dem Resultat, dass er anschliessend einen Crash erleidet und sich mit einer postexertionellen neuroimmunen Erschöpfung, also einer Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PENE), rumschlagen darf. Die Symptome der PENE sind teilweise übel: Schwindel, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, ‚Watte-oder-Nebel-im-Kopf-Gefühl‘, masslose Erschöpfung nach kleinster Anstrengung, Wortfindungsstörungen, Sehstörungen, Schmerzen im Brustkorb, Kribbeln in Armen und Beinen, stechende Schmerzen im Bauch. Die Liste ist nicht abschliessend, aber so schon abstossend genug.


Jedes Mal, wenn ich in einer PENE-Phase bin, verfluche ich mich, dass ich nicht besser aufgepasst habe. Dass ich – schon wieder – meine Grenzen überschritten habe, nicht achtsam genug war und ergo an meinem Zustand gerade selbst schuld bin. Dazu kommt noch das Schuldgefühl meiner Familie gegenüber. Denn mein Zustand wirkt sich unmittelbar auf meinen wunderbaren Mann und meine grossartigen Kinder aus. Sie leiden mit und sind wütend auf das Universum, dass es mir so schlecht geht. Es tut mir unendlich leid, dass ich ihnen meine Krankheit antue. Was für ein Trauerspiel das Ganze!


Natürlich ist mir rational klar, dass ich nichts für meine Krankheit kann. Trotzdem finde ich, dass mein Zustand meinen Liebsten zu viel zumutet. Punkt.


Die Krux am Pacing, also dem Anpassen der Aktivität an die jeweiligen Umstände, ist, dass die Verlockung, mich lebendig zu fühlen an guten Tagen, anstatt brav und vernünftig zu sein, oft einfach viel zu gross ist. Macht mein Körper einigermassen mit, so geniesse ich das und lasse mich zu Dingen hinreissen, die mich zu viel Kraft kosten. Die guten Tage erhalten meine psychische Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Grenze schlicht nicht immer sichtbar ist. Damit ich mich nicht ausschliesslich auf mein Gefühl verlassen muss, das mich doch öfters in die Irre führt, habe ich mir vor ein paar Monaten einen Fitnesstracker angeschafft. Damit kann ich mehrmals täglich mein Pulsprofil und die Anzahl Schritte überprüfen. Springt der Puls allzu sehr, gönne ich mir mehr Ruhe, sammle ich zu viele Schritte, ebenso. In den aktuellen Crash bin ich unvermittelt reingeraten, ich habe ihn nicht kommen sehen. Ich hatte einen sehr guten Tag (12‘000 Schritte), dann noch einen (10‘000 Schritte)! Am dritten Tag fühlte ich mich nicht mehr ganz so gut und habe mich geschont (6‘500 Schritte). Der vierte Tag war wieder super, ich habe wegen des Pulsprofils aber darauf geachtet, nicht massiv zu viele Schritte zu machen (10‘000). Der fünfte Tag war etwas schlechter, ich war müde und die Schmerzen kamen zurück (6‘000 Schritte). Der sechste Tag dito (7‘000 Schritte). Trotzdem habe ich mich gefreut. Es war ganz schön viel Aktivität ohne Crash! Ich dachte, jetzt wird’s besser, Licht am Ende des Tunnels! Ich wurde für meine übermässige Aktivität nicht bestraft. Nur etwas gebremst. Das ist gut, damit kann ich umgehen. 12‘000 Schritte! Das ist eine ganze Menge! Ich war auch etwas stolz auf mich, beträgt ja die offizielle Empfehlung der WHO für ein gesundes Leben 10‘000 zu absolvierende Schritte am Tag. Wobei ich mich schon frage, wie man das überhaupt schafft, darunter zu bleiben? Für einen gesunden Menschen, der täglich arbeiten geht oder Kinder betreut, sind 10‘000 Schritte nichts, die hat man wohl schon vor dem Mittagessen abgespult, oder? Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass ich, trotz der 12‘000 Schritte, auch nur annäherungsweise da bin, wo ich vor der Erkrankung war. Der siebte Tag läutete den Crash ein (3‘700 Schritte), der achte und neunte Tag verbrachte ich mehrheitlich liegend, krank, wütend und traurig. Zack, Crash. Zack, Schuldgefühle. Was für eine Sch…!


Die ME-Experten sind sich darin einig, dass es nur einen Weg zurück in ein halbwegs normales Leben geben kann, wenn der Patient lernt, diesem Push-Crash-Kreislauf zu entkommen.


Ich habe Chemie studiert. An der Uni. Mit Masterabschluss. Ich weiss, wie man lernt. Und trotzdem ist es mir bis heute nicht gelungen, das Pacing zu erlernen. Das liegt wohl daran, dass es dazu keinerlei Literatur oder Anleitung gibt. Jeder Betroffene wurschtelt für sich alleine vor sich hin, versucht, die Grenzen zu erkennen, einzuhalten und ganz nebenbei noch bei geistiger Gesundheit zu bleiben. Eine ganz schön grosse Verantwortung...


Diese Krankheit ist die grösste Herausforderung, der ich mich jemals stellen musste. ME ist allumfassend. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht davon betroffen wäre. Nichts, das noch so ist, wie es vor der Krankheit war.


Vor einigen Jahren habe ich mir in den Kopf gesetzt, mit meinem Mountainbike drei Alpenpässe am selben Tag zu befahren. Furka, Nufenen, Gotthard. Ich hatte die Idee an einem Mittwoch. Am Donnerstag bestieg ich den ersten Zug nach Andermatt. Die Tour war hart. Aber super. Ich habe durchgehalten, weil ich jederzeit abbrechen konnte. Ich hätte bloss mein Bike umdrehen müssen und wieder runterfahren können. Dieses Wissen hat mich immer weiter angetrieben. Ich musste nicht, ich wollte. Diese Exitstrategie hat mir bei all meinen bisherigen Herausforderungen geholfen durchzuhalten, zu reüssieren.



ME lässt mir keine solche Exitstrategie. Ich muss schlicht weiter machen, ob ich will oder nicht. Das ist wirklich schwierig. Erdulden ist nicht gerade meine Stärke. Besonders dann nicht, wenn das Licht am Ende des Tunnels nicht die Erlösung, sondern ein auf mich zurasender Güterzug ist.




Humor ist, wenn man trotzdem lacht.


Humor ist, wenn mein Mann mir in der traurigsten, völlig verzweifelten Stunde sagt, ich sei eine Heulsuse.


Humor ist, wenn man das Leben leicht machen kann, auch wenn es zentnerschwer ist.


Humor ist lebenswichtig.

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