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  • daniamarthaler

Wie geht es dir?

Eine ganz einfache Frage, könnte man meinen, und geboren aus der Höflichkeit, wenn sich zwei Menschen treffen. Die Frage zu beantworten ist indes häufig gar nicht so leicht, nicht einmal dann, wenn man keine chronische Krankheit hat. Selbst wenn jemand gesund, beruflich gut aufgestellt und familiär harmonisch eingebunden ist, also die von den allermeisten Menschen herbeigesehnte Normalität lebt, so gibt es im Leben einer solch glücklichen Person schwarze, wenn nicht gar rabenschwarze Tage. Morgens schüttet man den Kaffee über die einzige gebügelte Jeans; der Chef schnauzt einen unvermittelt an, kaum hat man das Büro betreten; die Schule ruft an, der Sprössling sei krank und müsse sofort abgeholt werden; der Lebenskomplize oder die Lebenskomplizin ist auf Geschäftsreise und die Waschmaschine defekt. Trifft man an einem solchen Tag beim abendlichen Einkauf – bei dem man natürlich keine passende Münze für das Einkaufswägelchen dabeihat, dafür den fiebernden, quengelnden Sprössling – auf jemanden, den man kennt, kommt unweigerlich die Frage: «Wie geht es dir?»


Daraufhin hat man mehrere Optionen:

1.) Man erzählt nicht die ganze Wahrheit: «Och, recht gut. Kind XY ist halt krank und deshalb ist es gerade etwas stressig.» Anschliessend lenkt man schnell ab, indem man den Ball zurückspielt: «Wie geht’s dir?»

2.) Man lügt rundheraus: «Uns geht es sehr gut, vielen Dank!» Auch hier gebührt der Anstand die umgekehrte Frage: «Und dir?»

3.) Man ist ehrlich: «Jetzt gerade nicht so toll. Ich hatte einen richtigen Sch…tag. Zuerst der Kaffee auf den Hosen, dann den motzenden Chef im Genick, anschliessend musste ich im Büro die Fahnen strecken und Kind XY abholen, weil krank. Nun habe ich den Chef erst recht im Genick, weil das wichtige Projekt nicht zeitig fertig wird, und der Lebenskomplize / die Lebenskomplizin ist auch noch verreist. Saubere Hosen habe ich keine mehr, weil Waschmaschine defekt. Ich freue mich auf mein Bett!» In diesem Fall erübrigt sich die Gegenfrage nach dem Befinden des Gesprächspartners meist.


Und welche dieser Optionen soll nun ergriffen werden? Erst einmal spielt das Gegenüber eine grosse Rolle. Einer entfernten Bekannten wird man wohl kaum die ganze Lebensgeschichte erzählen wollen. Die Optionen ‘nicht die ganze Wahrheit erzählen’ und ‘lügen’ sind passend. Einem guten Freund sollte man natürlich keinen Bären aufbinden, aber die ganze Wahrheit ist häufig auch nicht erwünscht. Man entscheidet sich deshalb meist für die halbe Wahrheit. Ergibt sich anschliessend ein Gespräch, kann man immer noch mehr erzählen. Jemandem, den man nicht mag, kann man ruhig die «Uns ging’s noch nie besser!»-Lüge auftischen. Mag man den temporären Gesprächspartner überhaupt nicht, sollte man die Lüge noch mit einem überzeugenden «Ich bin gerade soooooo glücklich!»-Lächeln untermalen. Die Gesprächspartnerin wird nach dem hektisch vollzogenen «Wie glücklich bin ich eigentlich gerade?»-Vergleich zügig das Weite suchen.


Der Zeitfaktor spielt natürlich auch eine Rolle bei der Optionenwahl. Hat man genügend Zeit, so kann man – abgestimmt auf das Gegenüber – die Halbwahrheit etwas ausdehnen in Richtung Wahrheit. Ist es zeitlich eng, so rechtfertigt sich auch bei einem Freund manchmal die Lüge.


Die oben dargestellten und weiteren Erwägungen zur passenden Beantwortung der manchmal unsäglichen Frage, laufen innert kürzester Zeit ab und häufig so, dass der Befragte nicht einmal merkt, welche Alternativen er in Betracht zieht. Die Antwort kommt meist intuitiv. Und im Normalfall spielt es auch gar nicht eine so grosse Rolle, welche Variante gewählt wird. Schliesslich ist das Wohlbefinden eines glücklichen Menschen, der alles Notwendige zum Glücklichsein hat, also Gesundheit, Familie, Job und nicht allzu viele finanzielle Nöte, nach kurzer Zeit wiederhergestellt und man muss um ein zeitlich begrenztes Unwohlsein kein grosses Aufheben machen.


Ich befinde mich auf der Skala «Ein gutes, lebenswertes Leben führen» irgendwo in der Mitte, wie vermutlich die meisten Menschen. Vielleicht ist das etwas schöngeredet und ich befinde mich eher etwas zur «Grade ziemlich blöd»-Seite hin verschoben. Meine anhaltende Erkrankung ist ein grosses Thema in meinem Leben. Ich mag aber je länger je weniger von chronischer Erkrankung sprechen. Niemand weiss nämlich, ob ich nicht doch irgendwann – vielleicht durch medizinische Innovation – gesunden kann. Die Erkrankung wirft einen Grauschleier auf mein glückliches Leben, der sich manchmal hebt und manchmal tiefschwarz verfärbt. Meine Tage gleichen in übertragener Weise häufig dem obenerwähnten Beispiel. Und was soll ich nun auf die Frage «Wie geht’s?» antworten? Es geht mir niemals gut, weil ich an keinem einzigen Tag seit dem 15. September 2017 gesund war. Es gibt hingegen viele Tage, an denen ich zufrieden bin. Zufrieden mit mir selbst und meiner kleinen Welt. Die Welt wird nämlich plötzlich sehr klein, wenn man nicht mehr über genügend Energie verfügt, um kurze Spaziergänge unternehmen zu können. Dies, weil die Muskelkraft nicht mehr ausreicht, um den Körper aufrecht und gehend zu erhalten. Auch weigert sich mein Kreislauf häufig brav im Kreis zu laufen, so, wie sich das für einen fast jungen Kreislauf gehören würde.


Die «Wie geht es dir?»-Frage ist für mich so schwierig zu beantworten, weil ich es normalerweise selber gar nicht so genau weiss. Mein Geist ist immer noch derselbe – unternehmungslustig, aktiv, interessiert, begeisterungsfähig – aber er steckt in diesem neuen Körper fest, der unbeweglich, nicht belastbar, erschöpft und ja, mittlerweile auch erkennbar zu schwer ist (Randbemerkung: versuchen Sie mal abzunehmen, ohne sich bewegen zu können…). Das Geist-Körper-Dilemma stört mein Wohlbefinden empfindlich. Meistens könnte ich also mit «Nicht so gut» antworten. Je länger ich krank bin, desto eher übernimmt mein Geist glücklicherweise die Führung. In meiner kleinen Welt komme ich mittlerweile ganz gut klar und ich kann entsprechend Rücksicht auf die Bedürfnisse meines Körpers nehmen. Deshalb könnte ich häufig auch mit «Es geht mir ziemlich gut» antworten. Zurzeit antworte ich allermeistens mit «Status quo; es hat sich gesundheitlich nicht viel getan (sprich: nix) und ich lerne immer noch, damit umzugehen». Kürzlich hat sich auch die Antwort: «Danke für die Frage, nächste Frage.» eingebürgert. Diese Antwort entspricht meist nicht dem Verlangen, jegliches Gespräch über meinen Gesundheitszustand im Keim zu ersticken, sondern eher aus Verlegenheit. Meine Familie und meine lieben Freunde beobachten mein Nicht-Wohlergehen seit gut zwei Jahren mit Interesse und Verständnis und es macht mich traurig, ihnen nicht endlich mal einen guten Bescheid geben zu können.


Ich mag die Frage auch deshalb nicht, weil sie die Thematik zu Beginn eines Gesprächs unweigerlich auf meine Erkrankung lenkt. Wer möchte schon ein Gespräch mit einer Niederlage beginnen? Die Tatsache, dass ich krank bin, hat nicht viel daran geändert, dass ich ein ehrgeiziger Mensch bin. Ich mag Niederlagen überhaupt nicht. Und das ist vielleicht meine höchstpersönliche Nemesis. Nemesis, das ist die griechische Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Sie bestraft vor allem die menschliche Selbstüberschätzung und die Missachtung des göttlichen Rechts und der Sittlichkeit. Der Missachtung göttlicher Gesetze habe ich mich wohl nicht schuldig gemacht und auch die Sittlichkeit habe ich gewahrt, abgesehen von der einen oder anderen Jugendsünde. Der Selbstüberschätzung bekenne ich mich hingegen schuldig. Bevor ich krank wurde, war ich überzeugt, dass ich alles schaffen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge und es wirklich will. Dieser Druck, den ich mir damit selbst gemacht habe, hat mich erfolgreich gemacht und wohl geradewegs in den Abgrund geführt. Damit übernehme ich aber nicht die Verantwortung an meiner Krankheit, ich bin nicht selbst schuld daran. Aber ich habe nicht gemerkt, dass mein persönliches Ökosystem auf einen Kippfaktor zurast, der, einmal gekippt, das ganze System nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringt und also auch irreversibel sein könnte. Dieses Prinzip stammt aus der Klimaforschung. Es beschreibt den Umstand, dass das Klima sich nachhaltig und irreversibel verändert, wenn bestimmte Faktoren einen gewissen Schwellenwert überschritten haben, beispielsweise mehr als zwei Grad Erderwärmung gleich gar nicht gut: Pole schmelzen ab, Meeresspiegel steigen, Meeresströmungen verändern sich, Wetter verändert sich, Klima verändert sich. Ganz blöd. So richtig.


Ich denke, dass sich dieses Prinzip auch auf die gesundheitlichen Vorgänge in einem so komplexen System wie dem menschlichen Organismus übertragen lässt.

Vor meiner Erkrankung litt ich unbemerkt an Selbstüberschätzung und bezahle nun dafür, indem ich tagtäglich mit meiner eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert werde. Weil ich aber meine Selbstüberschätzung dadurch nicht losgeworden bin, bin ich überzeugt, die Herausforderung meistern zu können. In welcher Form auch immer.



Nachtrag: Diesen Text durfte ich anlässlich des Kulturabends ‘Gesichter und Geschichten’ in der Mühle Otelfingen am 14.12.2019 vorlesen. Es glich einer energetischen Höchstleistung, mit der Nervosität und dem ausgeschütteten Adrenalin umzugehen. Aber es hat sich gelohnt: rund 80 Zuschauer erfuhren von der myalgischen Enzephalomyelitis, einige nahmen sogar einen der aufgelegten Flyer mit. Auch war eine Nationalrätin anwesend, die von meiner Freundin zur Mitnahme des Flyers leicht genötigt wurde…J Heute ist fünf Tage später und ich fühle mich endlich wieder etwas besser.

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